Armes Amerika Millionen Menschen in den USA haben nicht mehr genug zu essen. Teile der Mittelschicht versinken in Armut,

Veröffentlicht am 14.12.2011 in Allgemein

Matthias Ruch, Brooklyn in der Financel Times Deutschland

Dolores friert. Müde lehnt sie sich an die kalte Betonwand und starrt auf ihre Stiefel. Es ist ein grauer Montag- morgen in Brooklyn, und die Schlange vor dem Eingang des Sozialamts reicht um den halben Block. Seit kurz nach 8 Uhr wartet sie hier und raucht. Um 9 Uhr öffnet das Amt.
Dolores steht Schlange für Essen- marken für sich und für ihre Kinder. Food Stamps heißen diese Marken in den USA, und ohne sie würden Mil- lionen Menschen in Amerika hun- gern. 50 dieser Menschen hat Dolores an diesem kalten Morgen noch vor sich, mehr als 100 Bedürftige warten hinter ihr. „Früher gab es hier nur Afros und Latinos“, sagt sie, „heute kommen sie alle.“
Da sind muslimische Frauen mit Kopftüchern, orthodoxe Juden mit schwarzen Hüten, Afrikanerinnen in bunten Gewändern. Da sind junge Mütter mit Kindern auf dem Arm, schicke Männer in Anzug und Krawat- te. Sie alle haben eines gemein: Sie brauchen Hilfe vom Staat.

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2008 ist die Zahl der Emp fänger von Food Stamps um mehr als 50 Prozent gestiegen. Allein in New York leben inzwischen 1,8 Millionen Menschen von den Marken. Oder ge-
hen zu den 1200 Suppenküchen, die kostenlos verteilen, was in Restau- rants und Geschäften übrig bleibt.
Mit diesem Elend steht das reiche New York nicht allein. Jeder siebte US-Amerikaner bezieht inzwischen Essenmarken, 46 Millionen Empfänger sind registriert, das sind 70 Prozent mehr als vor vier Jahren. In Wa- shington DC und in besonders armen Bundesstaaten wie Alabama kauft so- gar jeder Vierte mit ihnen ein.
Die Schlangen vor den Sozialäm- tern überall im Land werden zum Symbol der verarmenden Staaten von Amerika. Die größte Volkswirtschaft der Erde ist kaum mehr in der Lage, ihre Bürger zu ernähren. Viele hatten ihre Hoffnungen in Barack Obama gesetzt. Doch unter seiner Führung hat sich der Niedergang sogar noch beschleunigt.
Mit dem sozialen Elend wachsen die Staatsschulden. Die Opposition fordert harte Einschnitte; es ist Wahl- kampf. Und die neue Armut ist dabei, das beherrschende Thema zu werden.
Bisher hat noch keine Regierung gewagt, die Essenmarken anzutasten, ein klein wenig Sozialstaat wollten selbst die Konservativen ihren Bür- gern gönnen. Vor 70 Jahren wurden sie eingeführt, damals waren die re- gional finanzierten Programme noch als Konjunkturstütze gedacht. Sie sollten die Armut lindern und den örtlichen Bauern Umsätze bescheren. In- zwischen ist das Landwirtschaftsmi- nisterium auf Bundesebene zustän- dig. Die Kosten trägt die Regierung in Washington.
Und die steigen steil an. Im ver- gangenen Fiskaljahr gab der Staat 68 Mrd. Dollar für Food Stamps aus. „In diesem Jahr dürften die Kosten auf 80 Mrd. Dollar steigen, und für die kommenden Jahre rechnen wir mit mehr als 100 Mrd. Dollar“, sagt Joel Berg. Der 47-Jährige ist Chef der New York City Coalition Against Hunger, die Suppenküchen und Ausgabestel- len für Lebensmittel in der Stadt ver- tritt und deren Arbeit koordiniert. Seine Organisation zählt zu den wich- tigsten Advokaten für die Armen in New York und im ganzen Land.
Energisch, voller Inbrunst und mit geballten Fäusten poltert der gedrun- gene Mann gegen die Kürzungspläne der Konservativen: „Erst haben die Republikaner unsere Wirtschaft ka- putt gemacht, und jetzt wollen sie den Opfern dieser kaputten Wirtschaft auch noch den Geldhahn zudrehen.“
Einer dieser Republikaner ist Sena- tor Jeff Sessions aus Alabama. „Die Kosten laufen aus dem Ruder“, sagt er. „Die Food Stamps verschlingen inzwi- schen mehr Geld als die Justiz und un- sere Autobahnen. Wir können uns das einfach nicht mehr leisten.“
Das sieht Präsident Obama ganz anders. Er steht ausdrücklich hinter dem Programm, als erster Präsident ist er selbst in einer Familie aufge- wachsen, die Food Stamps erhalten hat. „Dies ist ein zentrales Problem unserer Zeit“, stellte er Anfang De- zember in einer Grundsatzrede in Kansas klar. „Es bricht mir das Herz,dass Millionen Familien heute zu Sup- penküchen gehen müssen, damit ihre Kinder eine Mahlzeit bekommen.“
Dabei zählen viele Empfänger gar nicht zu den Ärmsten. Wie Dolores aus Brooklyn. Die 29-Jährige lebt mit ih- rer Tochter und ihrem Sohn in einer ordentlichen Wohnung in Fort Greene. Eine Familiengegend, kein sozialer Brennpunkt. Sie zahlt ihre Rechnungen, kümmert sich tagsüber um die Kinder und arbeitet abends in einem Restaurant. „Das Problem ist nicht, dass es keine Arbeit gibt“, sagt sie. „Doch die Löhne sind einfach zu niedrig und die Preise zu hoch.“
Die untere Mittelschicht gleitet ab in die Bedürftigkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte Amerikas wird die nächste Generation weniger haben als ihre Eltern. „Für viele Menschen zahlt sich harte Arbeit nicht mehr aus“, klagt auch Obama. „Nie zuvor war die soziale Ungleichheit so groß wie heu- te. Die Zukunft der gesamten Mittel- schicht steht auf dem Spiel.“
Und diese Entwicklung spitzt sich dramatisch zu. Allein in New York le- ben 1,4 Millionen Menschen in Haus- halten, in denen es an Nahrung man- gelt, heißt es im Bericht der Coalition Against Hunger. Jedes fünfte Kind be- komme nicht genug zu essen.
Armut – das war traditionell ein Problem in der Bronx, in Queens und im Osten von Brooklyn. Doch inzwi- schen breitet sich der Hunger in der ganzen Stadt aus. Selbst in Manhattan haben 227500 Haushalte keine si- chere Versorgung mit Lebensmitteln. Dabei sind die Bedürftigen keines- wegs nur Afroamerikaner und Ein- wanderer aus Lateinamerika, wie viele immer noch glauben. Die Mehrheit der Empfänger von Food Stamps ist weiß und hat ihre Wurzeln in Europa oder der früheren Sowjetunion.
Auch Dolores’ Haut ist weiß. Ihren Nachnamen möchte sie nicht preisge- ben. Wie viele, die hier vor dem Sozial- amt in der Kälte stehen, hat auch sie Angst vor den Behörden. Seit sich die Konservativen darüber empören, dass Food Stamps über das Internet gehan- delt und gegen Alkohol und Drogen getauscht werden, wurden die Kon- trollen deutlich verschärft.
Dabei ist das Vergabeverfahren schon jetzt kompliziert. In New York sei es leichter, einen Führerschein zu bekommen als ein paar Food Stamps, kritisieren Sozialpolitiker. Sie werfen den Behörden vor, absichtlich büro- kratische Schikanen aufzubauen – zur Abschreckung. Schätzungen zufolge gehen landesweit etwa 30 Prozent der Food-Stamp-Berechtigten leer aus.
Im Zuge der politischen Debatte rücken nun auch die ökonomischen Auswirkungen des Food-Stamp-Pro- gramms in den Fokus. Mangel- und Fehlernährung hätten allein 2010 in den USA zu einem gesamtwirtschaft- lichen Schaden von 167 Mrd. Dollar geführt, rechnet die regierungsnahe Denkfabrik Center for American Pro- gress in einer Studie vor. Das Resü- mee: „Der Preis, den unser Land für den Hunger zahlt, ist viel höher als der, den wir zahlen müssten, um dem Hunger ein Ende zu setzen.“
Damit das Geld vom Staat tatsäch- lich für Nahrung ausgegeben wird, ist der Einsatz der elektronischen Food- Stamp-Karte, die inzwischen die alten Papiermarken ersetzt hat, streng limi- tiert. Alkohol und Zigaretten sind ver- boten, auch warme Mahlzeiten kön- nen Bedürftige damit nicht mehr zah- len. Die Empfänger sollen zu Hause kochen, das ist billiger.
Wer trotz staatlicher Restriktionen ein Bier kaufen will, muss sein Gutha- ben gegen echte Dollar tauschen. Für jeden Dollar auf der Karte zahlen Schwarzhändler in New York 50 Cent in bar. In vielen Fällen melden die Empfänger ihre Karten einfach als verloren und holen sich eine neue. Wer seine Karte höchstens dreimal im Jahr verliert, kommt damit durch.
Wie dieses System funktioniert, weiß jeder, der mit Dolores vor dem Sozialamt in der Schlange steht. Doch wer erwischt wird, kann alles verlie- ren. Das gilt auch für diejenigen, die sich schwarz etwas dazuverdienen. „Die Stadt gibt mir 120 Dollar im Mo- nat zum Einkaufen“, raunzt ein bulli- ger Mann, der am Ende der Schlange wartet und mit seinem Mobiltelefon spielt. „Das sind 4 Dollar am Tag, das ist doch Schwachsinn.“
Was er genau tut, um trotzdem seine Handyrechnung bezahlen zu können, sagt er nicht. „Business“, grummelt er nur und wendet sich ab. Fast jeder hier geht irgendwo irgend- was arbeiten. In der Regel schwarz.
Dass sich die Lage in den kommen- den Jahren zum Besseren wenden könnte, mag Joel Berg, der Anwalt der Armen, nicht mehr glauben. „Mit den Food Stamps können wir nur die Not lindern und Hungersnöte verhindern, aber unsere Probleme lösen wir damit nicht.“ Wenn Amerika Armut und Hunger wirklich bekämpfen wolle, müsste die Gesellschaft umgebaut werden. „Wir bräuchten gerechte Steuern und ein echtes Sozialsystem. So eins wie in Nordeuropa.“
Doch davon sind die USA weit ent- fernt. „Die Scheibenputzer sind wie- der da“, titelte das New Yorker Bou- levardblatt „Daily News“ vor ein paar Wochen. Gemeint sind die Männer und Frauen, die an Kreuzungen unge- fragt gegen ein Trinkgeld Autoschei- ben wischen. Unter den älteren New Yorkern wecken sie schlimme Erin- nerungen an die 80er-Jahre. Damals standen die Putzer an jeder Ecke.
Es war eine Zeit, in der die Stadt in einem Sumpf aus Drogen, Waffen und Korruption zu versinken drohte. Dannkam Bürgermeister Rudolph Giu- liani und räumte auf, mit har- ter Hand. Auch die harm- losen Scheibenputzer wurden verjagt. Jetzt sind sie wieder da, und ihre Rückkehr ver- heißt nichts Gu-tes.

 

Kommentare

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sagt:Ich seltle mit Freude fest, dass es durchaus kreative und schone Namen gibt. Nicht das ubliche Minka, Muschi, Miezi, was man glaubt zu kennen.

Autor: Rishabh, Datum: 21.02.2012, 18:42 Uhr